Wir sind dann wohl die Angehörigen

Die Reemtsma-Entführung aus ungewöhnlicher Perspektive: Weder der Entführte, noch die Ermittlung der Polizei stehen im Mittelpunkt, sondern die Erfahrungen der Angehörigen. Genau beobachtetes und erstaunlich spannendes Familiendrama.

Am 25. März 1996 wurde in Hamburg der Erbe der Zigarettendynastie Jan-Philipp Reemtsma entführt. Nach 33 Tagen wurde er nach Zahlung eines Lösegelds von 30 Millionen Mark freigelassen, schrieb bald das Buch „Im Keller“ über seinen Leidensweg. Wie es Reemtsmas Frau Ann Kathrin Scheerer und dem gemeinsamen Sohn Johann während und nach der Entführung gegangen ist, wurde dagegen kaum thematisiert. Mit dem Abstand von über 20 Jahren schrieb Scheerer 2018 sein Buch „Wir sind dann wohl die Angehörigen“, das nun die Basis für Hans-Christian Schmids Film bildet. Gleich zu Beginn deutet eine Szene das gespannte Verhältnis des pubertierenden Sohnes mit seinem übermächtig wirkenden, intellektuellen, wohlhabenden Vater an. Latein soll gelernt werden, was für den bildungsbürgerlichen Vater eine Selbstverständlichkeit darstellt, für den Sohn dagegen unnützes Wissen. Im Streit geht man am Abend auseinander, am nächsten Morgen ist der Vater entführt.

Mit den Angehörigenbetreuern Vera (Yorck Dippe) und Nickel (Enno Trebs) ziehen zwei Männer in das Haus der Reemtsmas ein, die zwischen den Stühlen sitzen. Auch in Christian Schneider (Hans Löw), einem Freund der Familie hat Johann eine Art Ersatzvater, der ihm emotional viel näher zu stehen scheint, als sein wirklicher Vater. Dennoch steht der übermächtige Jan-Philipp Reemtsma immer im Raum, dreht sich – natürlich – alles um ihn. Mit großer Genauigkeit beobachtet Hans-Christian Schmid diese Strukturen, enthält sich dabei stets einem Urteil über das Handeln der Akteure. Stehen Anfangs noch deutlicher Johann und seine Mutter im Mittelpunkt, entwickelt sich die zweite Hälfte zunehmend zu einem Polizeifilm, in dem die schließlich doch geglückte Geldübergabe fast minutiös nachgezeichnet wird. Wie ein solches unglaubliches, einschneidendes Ereignis die Familie, aber auch die anderen Beteiligten prägt, wird in den 120 Minuten von „Wir sind dann wohl die Angehörigen“ spürbar deutlich. Die Familie Reemtsma-Scheerer jedenfalls dürfte nach der Entführung nicht mehr die selbe gewesen sein.

Quelle: programmkino.de / Michael Meyns

Deutschland 2022
Regie: Hans-Christian Schmid
Darsteller: Claude Albert Heinrich, Adina Vetter, Justus von Dohnányi
118 Minuten
ab 12 Jahren

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