Eine kraftvolle Inszenierung, schillernd zwischen Happening, Gruppenterror und dem Aufstand der Kinder: Christopher Roth und Jeanne Tremsal werfen die Zerfallsphase der Otto-Mühl-Kommune dämonisch, aber auch voll jugendlicher Unschuld auf die Leinwand.
Vollversammlung in der Kommune: Menschen werden vor versammelter Mannschaft gedemütigt, andere kommen glimpflicher davon, die nächsten profitieren gar vom tänzerischen Ausdruck ihrer intimsten Emotionen. Heute jedoch haben Simone und Holger eine Todsünde zu verantworten. Sie sind dabei, romantische Gefühle füreinander zu entwickeln. Der Mann wird ausgestoßen, die Frau bekommt eine zweite Chance, denn sie hat ihn verpfiffen und das „Vergehen“ gemeldet.
Wer noch nie von dem österreichischen Aktionskünstler und Kommunengründer Otto Mühl (1925 bis 2013) gehört hat, fühlt sich auf einen anderen Stern versetzt. Die Regeln der Lebensgemeinschaft erscheinen aus heutiger Sicht absurd. Zimmer gibt es nur für Frauen, Männer müssen sich jede Nacht eine neue Partnerin suchen. Kinder werden von ihren Eltern getrennt, die in anderen Kommunen leben. Der Grund für die widernatürlichen Vorschriften liegt in der Abscheu vor der Kleinfamilie. Nur wenn es gelinge, jegliche Form von Zweierbeziehung zu überwinden, könne es eine bessere, freiere Welt geben. In den 1970er und 1980er Jahren hatten Mühls Kommunen großen Zulauf, bis der Gründer 1991 wegen Unzucht mit Minderjährigen zu sieben Jahren Haft verurteilt wurde. Natürlich wollen die Filmemacher den Kinderschänder im Nachhinein nicht freisprechen, sie zeigen ihn als innerlich zerrissenen Menschen, als Teufel und Kümmerer in einer Person. Wichtiger noch: sie legen die Mechanismen offen, die Menschen wider besseres Wissen dazu bringen, wegzuschauen, wenn Verbrechen geschehen. Damit leistet der Film zweierlei. Er lässt aus der Perspektive der Kinder die Sehnsüchte der damaligen, noch von den 68ern geprägten Zeit wieder aufleben. Und er verhandelt implizit Themen, die weiter aktuell sind: Wie Freiheitsbewegungen in totalitäre Strukturen umkippen. Die „echte“ Jeanne Tremsal hat sich von all dem lösen können, ohne anhaltend Schaden zu nehmen. Sie ist Schauspielerin geworden und spielt nun in der fiktiven Aufarbeitung ihrer eigenen Geschichte mit: als Jeannes Mutter Mathilde.
Quelle: Programmkino.de / Peter Gutting
Deutschland 2022
Regie: Christopher Roth
Darsteller: Jana McKinnon, Clemens Schick, Leo Altaras
116 Minuten
ab 16 Jahren